Mittwoch, 19. Januar 2011

Der identitäre Niedergang des Linksradikalismus


Den folgenden Beitrag haben wir frech von Tueinfo geklaut, der dort als Kommentar gepostet wurde. Er gefiel uns aber so gut, wir ihn unbedingt nochmal abdrucken mussten. Wäre uns die*der Autor*in bekannt gewesen, hätten wir vielleicht sogar vorher gefragt.

Vorbemerkung:
Der Artikel erklärt grundlegend die Problematik, warum es diesen Blog überhaupt gibt, welcher sich selbst leider auch innerhalb dieser Problematik verortet. Eine weitere Diskussion auf der Basis dieses Beitrags und der zugrundeliegenden Literatur wünschen wir uns sehr!

Kontext:
Der Anlass, weshalb der Beitrag geschrieben wurde, ist die Diskussion, die auf ein Interview mit der antideutschen Band "Egotronic" auf Tueinfo folgt. Den Originalkontext findet ihr hier:

http://www.jpberlin.de/tueinfo/cms/node/19418#comment-3063

Artikel:
Nehmen wir nur einmal deine Bezeichnung von Egotronic als "linksradikale" Band. Diese Bezeichnung mag sogar Berechtigung haben - dann muss man dabei aber auch klarstellen, was "Linksradikalismus" eigentlich ist und welche Phase des deutschen "Linksradikalismus" das antideutsche Politik-Surrogat darstellt.

Nach Michael Koltan muss man, um das zu erkennen, zurückblicken, zunächst zum Ende der 80er Jahre. Drei Momente kamen damals zusammen: Zum einen die zaghaft beginnende Auseinandersetzung über die antisemitischen Anteile des linken Antizionismus. Nur wenig später kam als zweites Moment ein Ereignis von weltgeschichtlichem Ausmaß hinzu: Der real-existierende Sozialismus klappte praktisch über Nacht wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Und in der Folge der Umwälzungen im Osten folgte dann schnell das dritte Element, nämlich der Aufschwung der Antifa-Szene nach den spektakulären Pogromen von Rostock oder Hoyerswerda. Die durch die aktuellen Geschehnisse erzwungenen anti-nationalen Kampagnen machten den Antinationalismus und Antirassismus von einem Randgebiet zu einem zentralen Bestandteil linksradikalen Selbstverständnisses. Koltan meint: "Aus diesen drei Momenten sollte sich das anti-deutsche Politiksurrogat amalgamieren, mit dem der Linksradikalismus in der Folge von ’68 in sein letztes und unwiderrufliches Verwesungsstadium eingetreten ist."
Ihres Inhaltes völlig entleert sei die linke Kritik an linkem Antisemitismus zum Ticket geworden, das einem einen Ersatz für die im Niedergang der Bewegung verlorengegangene Identität versprach. Die Antisemitismuskritik transformierte sich aus einer Form der Aufklärung in die Form der identitätsstiftenden Ware: Man bekannte sich nun zu Israel, wie man sich in den 70er Jahren zu Mao bekannte. Bereits in der "Gegenkultur" der 68er hatte ja die Dichotomie Jugend vs. Establishment die Klassengegensätze überformt oder ersetzt; bereits die 1968er-Bewegung wurde nur ermöglicht durch das neue Modell des Nachkriegskapitalismus, das auf Massenkonsum setzte. Der Kapitalismus begann, nachdem er sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Produktionsprozess völlig unterworfen hatte, nun auch den Konsumptionsprozess nach seinem Bilde zu gestalten. Die Ersetzung der klassenspezifischen Kulturen durch eine einheitliche, standardisierte Massenkultur wurde von den Apologeten des Systems als Ende der Klassenunterschiede und einer schönen neuen Welt jenseits der alten „Ideologien“ des Klassenkampfes gefeiert. Für die Kritiker des Systems hingegen, egal ob von rechts oder von links, wurde das Ganze als allgemeiner kultureller Verfall interpretiert, aus dem es kein Entrinnen mehr geben könne. Die intelligenteste Variante dieses „Kulturpessimismus“ war zweifellos die von Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung entwickelte „Kulturindustrie“-Theorie. Doch selbst hier erschien, bei aller dialektischen Finesse, die Ausbreitung der Massenkultur nur als endgültiges Mittel, jegliches Klassenbewußtsein auszutreiben und die Individuen mit dem Bestehenden gleichzuschalten.
Die gesellschaftliche Funktion der Kulturindustrie ist: Waren zu produzieren, mit deren Kauf die Individuen ihre Differenz zu anderen Individuen dokumentieren konnten. Im Gegensatz zur auf möglichst breiten Konsens setzenden Mainstream-Kultur setzte die Gegenkultur auf Abgrenzung und bediente damit den zunächst kleinen Markt für identitätsstiftende Waren deutlich besser als dies der Mainstream konnte. Als am 2. Juni 1967 in Berlin ein harmloser Student namens Benno Ohnesorg erschossen wurde, erreichte die Entwicklung eine neue qualitative Stufe: Die Trias von Sex, Drugs and Rock'n'Roll wurde um die damals ultimative Provokation, den militanten Anti-Kapitalismus ergänzt. Die von den Bedürfnissen des Marktes geforderte Entwicklung ausdifferenzierter identitätsstiftender Waren brachte eine Ware hervor, deren geregelte Einbindung in den allgemeinen Warenkreislauf rund ein Jahrzehnt dauern sollte: Einen neuen linken Radikalismus, der mit dem alten Antikapitalismus der Arbeiterbewegung praktisch nichts gemein hatte.
Das Problem war, dass sich dieser linke Radikalismus selbst missverstand und wohl auch missverstehen musste: Während der alte Antikapitalismus der Arbeiterbewegung ein wesentlich kollektives Unterfangen war, war der neue Linksradikalismus zutiefst individualistisch. Er war nicht mehr durch die Strukturen der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse determiniert, aus denen die Arbeiterbewegung ihre Zielvorstellung bezog, die durch den spezifischen kulturellen Überbau nur vermittelt wurden. Der Linksradikalismus entsprang vielmehr direkt den Widersprüchen des kulturellen Überbaus, dem Zwang, sich selbst definieren zu müssen, ohne daß der Markt ein ausreichend differenziertes Sortiment identitätsstiftender Waren bereitgestellt hätte.
Doch: Der Linksradikalismus nach '68 war nach Koltan nicht so sehr deshalb problematisch, weil ihm die „Verwurzelung“ in der gesellschaftlichen Basis fehlte, als vielmehr, daß dadurch die Theorien, mit deren Hilfe die Protagonisten der Bewegung ihr Tun reflektierten, einen seltsamen Doppelcharakter annahmen: Zum einen erhoben sie, wie von Theorien erwartet werden kann, den Anspruch, die gesellschaftliche Realität zu erklären und den Handlungshorizont der Individuen zu definieren. Andererseits waren sie aber auch Identitätswaren: Ob man Maoist oder Sponti war, hatte wenig objektive Gründe, sondern hing von biographischen Zufällen ab. Das Analogon dazu ist eher in der Fankultur zu finden: Eigentlich ist es ziemlich belanglos, ob man lieber die Beatles als die Stones hört. Doch je belangloser die Differenzen, um so vehementer und ohne Aussicht auf Entscheidung kann man sich darüber streiten und gerade dadurch seine eigene Identität im Gegensatz zu der anderen bestätigen.
Das Problem der '68er Revolte besteht nach Koltan also nicht so sehr darin, dass sie eine individualistisch geprägte Überbau-Revolte war, sondern daß sie sich nicht in der Lage sah, den Doppelcharakter ihrer Theorien zu reflektieren. Der Gebrauchswert der Theorien, ihre Fähigkeit, die gesellschaftlichen Entwicklungen zu erklären und das Handeln der Individuen zu leiten, wurde durch ihre Überformung zu Identitätswaren in zunehmendem Maße in Mitleidenschaft gezogen. Und in der Form des Anti-Deutschen-Syndroms erlosch schließlich jeglicher theoretischer Gebrauchswert, zurück blieb eine leere identitätsstiftende Hülle.
Die Stärke des Linksradikalismus war, dass er ein durch die kapitalistische Produktionsweise geschaffenes Bedürfnis, das nach selbstgewählter Identität, besser befriedigen konnte als der Kapitalismus selbst; seine Schwäche, dass er der Produktion identitätsstiftender Waren massiv Vorschub leistete.
In Phasen des Niedergangs schlug regelmäßig das Phänomen der Identitätssuche nach Innen durch. Man braucht sich nur die hirnrissigsten Auseinandersetzungen der letzten 40 Jahre anschauen um zu erkennen, daß der einzige Inhalt mancher Debatten ausschließlich in ihrer Form lag, nämlich der aggressiven Identitätsbildung nach Innen.
Die 68er-Bewegung war dabei überhaupt nicht mehr in der Lage, eine Theorie hervorzubringen, die dem äquivalent gewesen wäre, was der Marxismus für die Arbeiterbewegung gewesen war, statt dessen wurde sich durch die K-Gruppen konsumistisch bei den alten revolutionären Theorien wie in einem Second-Hand-Laden bedient, es ging darum, sich eine eigene „politische Identität“ durch die Wahl des jeweiligen Pseudo-Marxismus auf den Leib zu schneidern.
Die Bewegungen der 80er Jahre waren aktionistisch orientiert und kamen weitestgehend ohne Theorie aus.
Heute kann sich, wer als Linksradikaler meint, nicht ohne Weltanschauung auskommen zu wollen, am „Nürnberger“-Modell der „radikalen Wertkritik“ oder dem „Freiburger“-Modell der „kommunistischen Freunde Israels“ orientieren.
Mit ihrer Berufung auf die Kritische Theorie konnte das „Freiburger“-Modell eine vornehmere Ahnenreihe aufweisen.
Beide aber sind vorläufiges Endprodukt des Niedergangs der Linken, ein "Verwesungsprodukt" in Folge des Niedergangs der Arbeiterbewegung. In großen Teilen ist der sog. "Linksradikalismus" dabei lediglich Teil einer Gegenkultur innerhalb der kapitalistischen Kulturindustrie, seinen Anhängern und Anhängerinnen scheint oft nicht bewusst zu sein, dass es sich bei ihren Debatten und Abgrenzungsversuchen, die keinerlei gesellschaftliche Relevanz haben bzw. den Anschluss an die Gesellschaft teilweise auch schon längst aufgegeben haben oder gar nicht suchen, um Versuche der Identitätsstiftung handelt, die vollkommen in der kapitalistischen Logik verortet sind als Politik-Versatzstücke als identitätsstiftendes Warenangebot, das individuell konsumierbar ist.
Die "linksradikale" Band Egotronic, obiges Interview und die identitären Auseinandersetzungen in den Kommentaren auf Tue-Info sind meiner Ansicht nach anschauliche Beispiele für den Niedergang und die Krise der Linken, deren angebliche (in Wahrheit aber längst bei der Affirmation der herrschenden Zustände angelangten) "Radikale" sich, abgeschnitten von jeglicher gesellschaftlichen Relevanz, in identitätsstiftende, kulturindustriell verwurstete Versatzstücke einstiger Politik flüchten. Verbunden mit dieser individualistischen, konsumistischen Attitüde ist in großen Teilen dieser "linksradikalen" subkulturellen Jugendszene eine Abgrenzung, ja Ausgrenzung und persönliche Diffamierung der traditionellen Linken und Personen, die sich dieser Tradition verpflichtet fühlen und an einer revolutinären Perspektive zur Überwindung des Kapitalismus festhalten, statt sich desillusioniert und perspektivlos zurückzuziehen und seine Zeit fortan damit zu verbingen, diese Resignation durch ständige, polemisierende Kritik der einstigen Genossen und Genossinnen zu verarbeiten. Mit viel identitärem Gehabe hat man sich in einer Nische der warenförmigen Gesellschaft eingerichtet, sich mit einigen Versatzstücken linker Theorie eingedeckt und sie zu einem Lifestyle ausgebaut, welcher den gesuchten identitätsstiftenden Zweck erfüllt. So kann man sich dann schön abgrenzen, sich in seiner Nische einrichten und sich das auch in mannigfaltigen inhaltsleeren Debatten selbst bestätigen. Was dabei herauskommt, sind dann solche Diffamierungen wie "Arbeiterklassefetischisten" für Leute, die noch ernsthafte marxistische, antikapitalistische Politik machen wollen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen