Freitag, 16. April 2010

„Fucking european racists“

Die rassistische Definition von Fortschritt von einem Teil der radikalen Linken

Zur Zeit der Kolonialisierung war Rassismus die grundlegende Ideologie zur Rechtfertigung der Unterwerfung nicht-europäischer Gruppen von Menschen (im allgemeinen als „Völker“ bezeichnet). Rassismus umfasste dabei immer schon sowohl die Konstruktion von „Rassen“ als Gruppen von Menschen mit anderer Hautfarbe und sonstigen körperlichen Merkmalen und der Zuschreibung von (meistens aber nicht immer) negativen Eigenschaften als auch negativ wertende Zuschreibungen zu kulturellen Elementen dieser "Völker". So wurden die Sprachen als primitiv und „unverständlich“ klassifiziert, die Geräte und Werkzeuge wurden häufig als auf dem „Steinzeitniveau“ befindlich degradiert, die Sitten und Gebräuche als „gottlos“ und „tierähnlich“ beschrieben.

Interessant ist, dass diese zweite Erscheinung des Rassismus, die Erklärung der Unterlegenheit einer Kultur, in leicht veränderter Form heute immer noch Gang und Gäbe ist (siehe „Spiegel“-Artikel wie „Steinzeitvolk im Amazonasgebiet entdeckt“) und sogar von selbstbezeichnenden radikalen Linken reproduziert wird!

Die Logik, die dieser Form des Rassismus zu Grunde liegt, ist die Vorstellung einer bis auf wenige Unterbrechungen lineare Entwicklung zum positiven hin. Dieser Fortschrittslogik ist zu tiefst ideologisch geprägt und macht z.B. vorneuzeitliche Gesellschaftszustände, die bei genauer Betrachtung aus heutiger Perspektive als positiv bewertet werden würden, unsichtbar. Es wird suggeriert, dass je länger eine Epoche zurückliegt, desto negativer das Leben in dieser aus heutiger Sicht zu bezeichnen sei. Des weiteren unterstellt dieser Fortschrittslogik, eine jede Gesellschaft würde ebenso eine zeitlich-(quasi-)lineare Entwicklung durchmachen und verschiedene Gesellschaften würden auf verschiedenen Entwicklungsstufen stehen, wo ebenfalls die am weitesten fortgeschrittene als die positivste bewertet soll. So gebe es entwickelte Länder und Entwicklungsländer, die rückständig seien und denen bei der Entwicklung geholfen werden müsse. Die Ursachen von Katastrophen wie Hunger, Kriege, Massaker usw. werden auf das Entwicklungsstadium zurückgeführt und damit entpolitisiert, da Machtinteressen, politische Akteure usw. ausgeblendet werden. Diese Logik wird aber nicht nur auf Gesellschaften, sondern auch auf indigene Gemeinschaften angewendet. Ihnen wird pauschal extreme Herrschaftsförmigkeit unterstellt und sie werden mit Eigenschaften wie patriarchal, entbehrungsreich und undemokratisch beschreiben. Der Blick auf einzelne Gemeinschaften wird als überflüssig dargestellt und die Frage der Solidarität mit indigenem Widerstand gegen die Einbindung in den Kapitalismus und die westliche Konsumkultur wird nicht nur nicht gestellt, sondern verrückterweise als antiemanzipatorisch diffamiert. Dabei wird von erwähnten radikalen Linken die westliche Konsumkultur überhöht als zur positivsten und am stärksten die individuelle Freiheit ermöglichenden Kultur erklärt.

Gelegentlich wird dabei mit Marx argumentiert, der die Möglichkeit einer freien Welt erst in voll „entwickelten“ kapitalistischen Ländern beschrieben haben soll.

Diese rassistische Argumentation ist aber nicht nur extrem chauvinistisch, sie dient auch konservativen und neoliberalen Akteuren zur Legitimation von Wirtschaftsprojekten, die der Stärkung die globale neoliberale Hegemonie fördern und von denen tausende von Menschen und Gemeinschaften existentiell bedroht werden. So wird in Mittelamerika mit dem Titel „Plan Puebla Panama“ (kurz PPP) eine Wirtschaftszone errichtet, wo Hundertausende von Indigenen vertrieben werden sollen, der Lebensgrundlage von Hundertausenden von Fischern durch Garnelenzuchtanlagen vernichtet werden solle und gleichzeitig Fabriken gebaut werden sollen, wo die arbeitslos Gemachten zu unmenschlichen Bedingungen Kleider und andere Produkte für den Weltmarkt produzieren sollen. Der PPP gilt auch als Entwicklungsprojekt und wird unter anderem unter dem Label „Entwicklungshilfe“ staatlich gefördert. Die Auswirkungen für die Betroffenen vor Ort sind dennoch mehrheitlich katastrophal!

Doch ein Teil der radikalen Linken interessiert eine solche Realität anscheinend nicht. Sie befassen sich anscheinend lieber ausschließlich mit Marx und Antifaschismus (was kein Problem ist, solange nicht solche Aussagen treffen). So kommen sie zum Beispiel auf einem Vortrag über rechte Ökologie zu Aussagen wie etwa 'Immer wenn Ökologiebewegungen nicht „fortschrittlich“ sind, kann sie als „rechts“ bezeichnet werden!'. Oder eine andere Person auf dem selben Vortrag etwa 'zu rechter Ökologie müssten auch Primitivisten (Aktivisten, die Indigenen, die als „primitiv“ klassifiziert werden verteidigen, Anm.d.A.) gerechnet werden'. Dabei wird die gängige, oben beschriebene, wertende Definition von „Fortschritt“ verwendet.

Solche unglaublich undifferenzierte Statements sind in genannter Szene leider keine Seltenheit. Argumentiert wird dabei mit der Position eines Teils der Primitivist*innen, die ebenfalls eine undifferenzierte und romantisierende Vorstellung von 'nicht-zivilisiertem', indigenem Leben haben.

Doch selbst eine undifferenzierte Romantisierung der Industriegesellschaft zu verbreiten, nur weil sie selbst eher an der „Spitze“ dieser Gesellschaft stehen (z.B. Studierende in einem Industrieland sind) und die für ihren Lebensstil notwendigen Arbeiten nicht selbst erledigen müssen (z.B. Abbau von Rohstoffen, industrielle Produktion, usw.), stört diese „radikalen Linken“ dabei aber wohl nicht.

Diese unglaublich arrogante Weltsicht provozierte einen indischen Freund von uns, der sowohl die industrielle Produktion in Indien wie auch das leben verschiedener indigener Gemeinschaften dort kennenlernte zu der Aussage: „...they [Vertreter*innen genannter Positionen] are just fucking european racists!“