Sonntag, 30. Januar 2011

Achtung: Manches was sich links nennt ist antideutsch!


Antideutsche sind eine linke Splitterfraktion, welche sich in vielen Themen gegen die verbreitete linke und linksradikale Position stellt. Bei manchen Themen brachten die antideutschen eine kritischere Perspektive in die Linke, allerdings tendieren ihre Positionen auch öfters zu denen von Rechtspopulisten oder Neokonservativen, oder rutschen sogar ganz dorthin ab.

In Tübingen sind antideutsche Positionen, von denen manche hardcore-antideutsch sind, andere nur antideutsch inspiriert, in Vorträgen weit verbreitet. Viele Antideutsche inspirierte bis hardcore-antideutsche Vorträge wurden im Input-Basic und in der Infoladenhausbar veranstaltet. Unfairerweise verheimlichen die Veranstalter*innen ihre Richtung, so dass Leute, die in die Szene nachkommen immer wieder antideutsche Vorträge konsumieren ohne es zu merken, und dann nach und nach antideutsche Positionen beziehen.

Um dieses Bewusstsein zu schaffen, gibt es diesen Artikel. Mit dem Wissen soll jede und jeder auf Vorträge gehen, wie sie_er will.

Wie entstanden Antideutsche?

Das Antideutschtum entstand aus einigen kommunistischen Gruppen nach „der Wende“. Die antideutschen bezogen eine pro-israelische Position und wendeten sich so gegen die klassischen antiimperialistischen Kommunist_innen, die eine anti-israelische Position hatten. Daraus resultierte dann auch eine pro-us-amerikanische Position, wo auch deren Kriege befürwortet werden. Ausserdem suchten sich Antideutsche dann auch eine kapitalismuskritische Theorie, mit der sie die Kritik an der Dominanz us-amerikanischen Konzerne, welche in der traditionellen Linken üblich ist, abschmettern konnten. Diese fanden sie dann auch in der „Wertkritik“, wobei sich führende wertkritische Theoretiker_innen (wie Robert Kurz) stark von den Antideutschen abgrenzen. „Antideutsch“ heißen die Antideutschen deshalb, weil sie, während die klassischen anti-imperialistischen Kommunist_innen schon oft die USA als das ulitmative Böse darstellen, eher Deutschland als die schlimmste aller Nationalstaaten darstellen. Das hat dann nicht mehr viel damit zu tun, „gegen Deutschland“ zu sein. Weil das tatsächlich ein Großteil der Linken sind, aber bei den meisten eben genauso, wie gegen andere Nationalstaaten.

Woran merke ich, dass ich antideutsche Positionen höre?

Parolen wie „gegen Deutschland“ oder „Deutschland wegfegen“ etc. ist nur ein leichter Hinweis auf Antideutsche, weil gegen Nationalismus zu sein tatsächlich ein linker Grundsatz ist und es sinnvoll ist, beim eigenen Nationalismus anzufangen. Die Fixierung auf diese Parolen jedoch, ist typisch für Antideutsche.

Dann ist eine starke Thematisierung des Nahostkonflikts verbunden mit einer pro-israelischen Position, bzw. eine starke Hervorhebung des Antisemitismus (Judenfeindschaft) generell typisch für Antideutsche. Antideutsche sehen Antisemitismus nicht nur in direkter Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden, sondern auch in Kapitalismuskritik, welche einzelne Personen (wie George Bush oder namenlose Reiche) in den Focus nehmen. Sie meinen, wenn Reiche kritisiert oder gegen sie gehetzt wird, seien damit indirekt Jüdinnen und Juden gemeint. Sie sprechen dann von strukturellem Antisemitismus. Den selben Vorwurf verwenden Antideutsche, wenn Firmen und Konzerne (nicht nur us-amerikanische) für ihre Handlungen kritisiert werden, wobei sie dies auch oft als „verkürzte Kapitalismuskritik“ bezeichnen. Ausnahmen machen sie aber manchmal, wenn es sich dabei um deutsche Firmen handelnt. Wenn die Politik der USA oder us-amerikanische Firmen kritisiert werden, sprechen Antideutsche von Antiamerikanismus. Auch „Klassenkampf“ ist ein Begriff, den Antideutsche prinzipell ablehnen und als strukturell antisemitisch denunzieren.

Ein eindeutig antideutsche Positionen ist, Antizionismus (also die Position gegen den jüdischen Nationalimus zu sein) mit Antisemismus gleichzusetzen. Des weiteren fallen Antideutsche durch überproportionale Kritik an Muslimen, dem Islam, Araber_innen oder muslimischen Organisationen auf. Das heißt nicht, dass vor allem islamistische Organisationen (wie Hamas oder Hisbollah) oder der Islamismus kritiklos hinzunehmen sind, dennoch ist es auffällig, dass diese Gruppen, auch wenn sie verhältnismäßig klein und weit entfernt sind, in den Fokus gerückt werden.

Was ist problematisch an antideutschen Positionen?

Mit dem antideutschen Schutz von kapitalistischen Akteuren wie Konzernen oder von Reichen kommen Antideutschen den Neokonservativen in den USA (eben wie George Bush und Konsorten) sehr nahe. Solche Kritik „aus der Linken heraus“ macht die Linke oft vollständig handlungsunfähig, weil die wenigen Ansatzpunkt, wo wir Linken ansetzen können und/oder Zustimmung bei den Ausgebeuteten dieser Welt finden können dann wegfallen, wenn wir diese Kritik ernst nehmen (was wir deshalb, und weil die Kritik meist inhaltsleer ist, nur sehr begrenzt tun sollten).

Da viele Antideutsche einen universitären Hintergrund haben, vertreten sie oft Positionen, die ihre eigene Stellung in der Gesellschaft (Abitur, Uni-Abschluss, gute Jobmöglichkeiten, viel Zeit für Theorie) unterstützen und die, die es in unserer Gesellschaft schwerer haben herabsetzen. Migrantische Jugendliche, Arbeiter_innen und Arbeiterjugendliche werden von Antideutschen für ihr Verhalten oft schonungslos kritisiert und herabgesetzt. Klar, dass Letztere sich meistens nicht so toll mit Theorie beschäftigt haben, daher oft sexistische oder andere politisch unkorrekte Bemerkungen machen, aber schließlich sind sie es, die den unerträglichen Zustand im Kapitalismus ertragen müssen und oft auch sie, die tatsächliche Kämpfe gegen den Kapitalismus führen (von Streiks und Blaumachen bis Ladendiebstal und Aufstände).

Ist Krieg eigentlich immer wieder gut?

Ähnlich wie der Großteil der etablierten Politiker_innen, in Deutschland, den USA und sonstwo, werden Antideutsche oft zu heftigen Kriegsbefürworter_innen. Die Friedensbewegung und ihre Bemühungen werden ähnlich häufig von Antideutschen angegriffen wie die antimilitaristische Bewegung.

Durch die antideutsche Konzentration von Kritik an muslimischen Einwander_innen und dem Islam haben sie manchmal genau die selben Positionen wie rechtspopulistische Gruppen (wie z.B. Pro-Köln), welche von den Antideutschen aber trotzdem bekämpft werden. Antideutsche Aussagen haben manchmal teilweise rassistische Elemente. Dies tritt vor allem bei Aussagen über Araber*innen, Muslimen/as, Palästinenser*innen hervor, wobei dies glücklicherweise selten direkt geäußert wird.

Antisemitismus – das wichtigste im Leben von Antideutschen

Problematisch ist vor allem die Position von Antideutschen zu Antisemitismus. Antisemitismus wird von Antideutschen prinzipiell höher gestellt als andere Rassismen. Dadurch werden Unterdrückungsideologien, Rassismus und Kolonialismus relativiert. So vertrat z.B. die antideutsche Gruppe „Emanzipation und Friede“ bei ihrem Vortrag in Tübingen die Position, dass Antisemitismus am schlimmsten sei, eine Mittelstellung hätte „der“ Rassismus und darunter käme „antimuslimische Ressentiments“. Mit letzterem meinen sie Rassismus gegenüber Muslimen, welcher zur Zeit in Deutschland gefährlich populär wird. Die Ähnlichkeiten zu den Anfangszeiten des Nazibewegung in den 20ern übersehen sie und stellen sich sogar teilweise mit der deutschen Mitte gegen die muslimischen Einwanderer und nicht-deutschstämmigen Menschen.

Ein wichtiges Problem ist, dass die Positionierung der Antideutschen zum Antisemitismus selbst schon antisemitische Züge hat: Jüdinnen und Juden werden als die ewigen Opfer einstuft werden. Die Politik des Staates Israel, welcher mit „den Juden“ assoziert wird (was ebenfalls problematisch ist), darf somit nur begrenzt kritisiert werden. Jüdinnen und Juden werden somit zu den „besseren Menschen“ gemacht, was sie meistens als diskriminierend empfinden.

Mit der Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus erklären die Antideutschen auch noch einen großen Teil der Linken zu Antisemiten. Dabei sind Linke an sich schon meistens Antizionisten, weil das zum antinationalistischen Grundsatz gehört, immerhin ist der Zionismus auch ein Nationalismus. Darunter auch unsere Freunde und Genoss*innen, die Anarchists against the Wall in Israel (awalls.org). Recht haben sie aber, wenn sie eine völlig einseitige antizionistische Position verurteilen, die Israel überhauptkein Existenzrecht zugestehen und fordern die Juden ins Meer zu treiben, denn so ähnliches fordern manche kommunistische Gruppen.

Der Kapitalismus ist der einzige der handelt, wir alle folgen nur?

Eine Schwierigkeit bei der Kapitalismuskritik von antideutschen oder anderen wertkritisch orientierten Kritiker*innen ist, dass sie extrem wenig Handlungsräume lässt, weil sie den Kapitalismus zu einem Mechanismus degradiert, in dem kein Mensch irgendwie Verantwortung für sein tun haben kann oder etwas ändern kann. Diese „objektivistische“ Kapitalismusanalyse ist nicht unbedingt falsch, aber sie ist eben noch lange nicht die einzig richtige. Aus dieser Position sind hungernde Arme ebenso dem Kapitalismus unterworfen und nicht mächtig anders zu handeln als reiche Millionäre oder mächtige Präsidenten. Das ist natürlich Quatsch, weil mit steigender Macht, also Geld oder Autorität, auch die Handlungsmöglichkeiten mehr werden, wie z.B. auch alles hinzuwerfen und ganz unten in der Gesellschaft weiterzumachen. Richtig ist, dass auf geschichtlich-langfristige Sicht und auch tendenziell der Markt bestimmt was passiert und die Politiker*innen wie Manager*innen nur den Gesetzen von Konkurrenz und Standortkonkurrenz folgen. Ihr Handeln aber damit zu entschuldigen finde ich bescheuert.

Anarchosyndikalismus, Betriebsbesetzung und „wie endlich alles anders wird“

Auch das Buch, "Kommunismus. Kleine Geschichte wie endlich alles anders wird", verwendet genau diese wertkritische Analyse. Im Buch wird auch die Besetzung der Betriebe durch die Arbeiter*innen beschrieben. Das ist die Strategie der Anarchosyndikalist*innen, wie der Freien Arbeiter Union (FAU). Die Besetzung alleine reicht, wie im Buch auch richtig beschrieben, nicht aus um den Kapitalismus zu besiegen. Im Buch wird daher die Betriebsbesetzung auch als falsche Taktik bezeichnet. Anarchosyndikalist*innen aber verbinden mit der Betriebsbesetzung auch die Bildung von Syndikaten, also Netzwerken, wo alle Betriebe eines Zweiges zusammenarbeiten. So verhindern sie, dass sie in Gegenseitiger Konkurrenz stehen. Im Buch wird diese Möglichkeit weggelassen, die*der Leser*in lernt nur: Betriebsbesetzungen sind keine Lösung.

Antideutsch Orientierte sind tatsächlich der Meinung, dass Besetzungen keine gute Strategie sind, auch wenn sie sich mit dem Syndikatsmodell auseinandersetzen. Sie sind der Meinung, dass solange es irgendwo Kapitalismus gibt, es überall Kapitalismus gibt. Die meiner Meinung nach wichtige Frage: „Wie den Kapitalismus abschaffen?“ finden sie scheinbar nicht wichtig, sondern meinen, dass erstmal das gesamte Verstehen von Marx' Lehren im Vordergrund stehen. Solange bleiben sie bei platten Phrasen wie „Kapitalismus abschalten, abschaffen, usw.“. Hier merkt mensch schnell, dass sie nicht so sehr unter dem Kapitalismus leiden, dass sie direkt jetzt etwas ändern wollen. Ihnen ist es wichtiger nur Theorie zu wälzen, sich von revolutionären Linken und Gewerkschaften abzugrenzen, als wirklich etwas zu tun.

Boykott – verkürze Kapitalismuskritik?

Aus dieser wertkritischen Position zusammen mit ein wenig Ignoranz kommen antideutsch Insprierte dazu, jegliche Boykotte als verkürzte Kapitalismuskritik zu diffamieren. Zum Beispiel der seit Jahren aufgerufene Boykott von Coca Cola, welche in Kolumbien Arbeiter*innen umbringen lassen, die für bessere Löhne Streiks organisieren. Antideutsche meinen dazu, dass da nicht Coca Cola schuld wäre, sondern der Kapitalismus und dass mensch statt dem Boykott lieber den Kapitalismus abschaffen soll. Klar! Schön! Würde ich gerne, aber solange niemand weiß wie das geht oder alle wissen dass es noch Jahrzehnte dauern wird, ist so ein Boykott einfach Lebenswichtig für die Arbeiter*innen in Kolumbien und es eine Sache der Solidarität sie zu unterstützen.

Wie gehen Anarchist*innen mit Antideutschen um?

Wie Anarchist*innen meistens mit allem umgehen: sehr unterschiedlich. Erstmal muss nochmal betont werden, dass es nicht einfach „Antideutsch“ gibt, was du bist oder nicht. Es gibt einen Extrempol, der in früheren Postionen der Zeitung Bahamas vertreten wurde. Die Bahamas sind längst ins rechtskonservative abgedriftet und stehen nicht selten mit CDU-Politiker*innen oder Rechtspopulisten auf einer Bühne. In Zeitungen wie der „jungle world“ und der „Konkret“ werden antideutsche mit anderen linken Artikeln gemischt. „Emanzipation und Friede“ hat schon sehr antideutsche Elemente, während „Junge Linke gegen Staat und Kapital“ und „Ums Ganze Bündnis“ nur leicht andeutsche Züge hat.

Je nach dem wie krass antideutsch die Positionen sind, so kann auch mit antideutschen zusammengearbeitet werden. Anarchist*innen finden sich aber meist in kritischer Distanz zu Antideutschen, auch wenn es Zusammenarbeit gibt. Öfters befinden sie sich auch im krassen Konflikt mit ihnen.

Vorsicht ist aber geboten, wenn Antideutsche sich als Anarchist*innen bezeichnen. Die Dogmatik ihrer Argumentation ist eine kommunistische, den Spagat zwischen Antideutsch und Anarchismus ist nur schwer wirklich zu schaffen.

Das wichtigste ist, sich nicht von antideutschen Pseudoargumenten zu sehr beeinflussen zu lassen. Ernst genommen, können sie jede anarchistische Praxis zerstören!

Empfehlenswert ist es, sich von antideutscher Dogmatik nicht beeinflussen zu lassen und direkt in den Klassenkämpfen zu arbeiten. Manchmal ist allerdings auch der Kampf, die direkte Aktion, Intervention und Argumentation gegen antideutsches Denken wichtig, weil sie die Nachwuchsgeneration verwirren und gegenüber den herrschenden Zuständen harmlos machen.


Mittwoch, 19. Januar 2011

Der identitäre Niedergang des Linksradikalismus


Den folgenden Beitrag haben wir frech von Tueinfo geklaut, der dort als Kommentar gepostet wurde. Er gefiel uns aber so gut, wir ihn unbedingt nochmal abdrucken mussten. Wäre uns die*der Autor*in bekannt gewesen, hätten wir vielleicht sogar vorher gefragt.

Vorbemerkung:
Der Artikel erklärt grundlegend die Problematik, warum es diesen Blog überhaupt gibt, welcher sich selbst leider auch innerhalb dieser Problematik verortet. Eine weitere Diskussion auf der Basis dieses Beitrags und der zugrundeliegenden Literatur wünschen wir uns sehr!

Kontext:
Der Anlass, weshalb der Beitrag geschrieben wurde, ist die Diskussion, die auf ein Interview mit der antideutschen Band "Egotronic" auf Tueinfo folgt. Den Originalkontext findet ihr hier:

http://www.jpberlin.de/tueinfo/cms/node/19418#comment-3063

Artikel:
Nehmen wir nur einmal deine Bezeichnung von Egotronic als "linksradikale" Band. Diese Bezeichnung mag sogar Berechtigung haben - dann muss man dabei aber auch klarstellen, was "Linksradikalismus" eigentlich ist und welche Phase des deutschen "Linksradikalismus" das antideutsche Politik-Surrogat darstellt.

Nach Michael Koltan muss man, um das zu erkennen, zurückblicken, zunächst zum Ende der 80er Jahre. Drei Momente kamen damals zusammen: Zum einen die zaghaft beginnende Auseinandersetzung über die antisemitischen Anteile des linken Antizionismus. Nur wenig später kam als zweites Moment ein Ereignis von weltgeschichtlichem Ausmaß hinzu: Der real-existierende Sozialismus klappte praktisch über Nacht wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Und in der Folge der Umwälzungen im Osten folgte dann schnell das dritte Element, nämlich der Aufschwung der Antifa-Szene nach den spektakulären Pogromen von Rostock oder Hoyerswerda. Die durch die aktuellen Geschehnisse erzwungenen anti-nationalen Kampagnen machten den Antinationalismus und Antirassismus von einem Randgebiet zu einem zentralen Bestandteil linksradikalen Selbstverständnisses. Koltan meint: "Aus diesen drei Momenten sollte sich das anti-deutsche Politiksurrogat amalgamieren, mit dem der Linksradikalismus in der Folge von ’68 in sein letztes und unwiderrufliches Verwesungsstadium eingetreten ist."
Ihres Inhaltes völlig entleert sei die linke Kritik an linkem Antisemitismus zum Ticket geworden, das einem einen Ersatz für die im Niedergang der Bewegung verlorengegangene Identität versprach. Die Antisemitismuskritik transformierte sich aus einer Form der Aufklärung in die Form der identitätsstiftenden Ware: Man bekannte sich nun zu Israel, wie man sich in den 70er Jahren zu Mao bekannte. Bereits in der "Gegenkultur" der 68er hatte ja die Dichotomie Jugend vs. Establishment die Klassengegensätze überformt oder ersetzt; bereits die 1968er-Bewegung wurde nur ermöglicht durch das neue Modell des Nachkriegskapitalismus, das auf Massenkonsum setzte. Der Kapitalismus begann, nachdem er sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Produktionsprozess völlig unterworfen hatte, nun auch den Konsumptionsprozess nach seinem Bilde zu gestalten. Die Ersetzung der klassenspezifischen Kulturen durch eine einheitliche, standardisierte Massenkultur wurde von den Apologeten des Systems als Ende der Klassenunterschiede und einer schönen neuen Welt jenseits der alten „Ideologien“ des Klassenkampfes gefeiert. Für die Kritiker des Systems hingegen, egal ob von rechts oder von links, wurde das Ganze als allgemeiner kultureller Verfall interpretiert, aus dem es kein Entrinnen mehr geben könne. Die intelligenteste Variante dieses „Kulturpessimismus“ war zweifellos die von Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung entwickelte „Kulturindustrie“-Theorie. Doch selbst hier erschien, bei aller dialektischen Finesse, die Ausbreitung der Massenkultur nur als endgültiges Mittel, jegliches Klassenbewußtsein auszutreiben und die Individuen mit dem Bestehenden gleichzuschalten.
Die gesellschaftliche Funktion der Kulturindustrie ist: Waren zu produzieren, mit deren Kauf die Individuen ihre Differenz zu anderen Individuen dokumentieren konnten. Im Gegensatz zur auf möglichst breiten Konsens setzenden Mainstream-Kultur setzte die Gegenkultur auf Abgrenzung und bediente damit den zunächst kleinen Markt für identitätsstiftende Waren deutlich besser als dies der Mainstream konnte. Als am 2. Juni 1967 in Berlin ein harmloser Student namens Benno Ohnesorg erschossen wurde, erreichte die Entwicklung eine neue qualitative Stufe: Die Trias von Sex, Drugs and Rock'n'Roll wurde um die damals ultimative Provokation, den militanten Anti-Kapitalismus ergänzt. Die von den Bedürfnissen des Marktes geforderte Entwicklung ausdifferenzierter identitätsstiftender Waren brachte eine Ware hervor, deren geregelte Einbindung in den allgemeinen Warenkreislauf rund ein Jahrzehnt dauern sollte: Einen neuen linken Radikalismus, der mit dem alten Antikapitalismus der Arbeiterbewegung praktisch nichts gemein hatte.
Das Problem war, dass sich dieser linke Radikalismus selbst missverstand und wohl auch missverstehen musste: Während der alte Antikapitalismus der Arbeiterbewegung ein wesentlich kollektives Unterfangen war, war der neue Linksradikalismus zutiefst individualistisch. Er war nicht mehr durch die Strukturen der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse determiniert, aus denen die Arbeiterbewegung ihre Zielvorstellung bezog, die durch den spezifischen kulturellen Überbau nur vermittelt wurden. Der Linksradikalismus entsprang vielmehr direkt den Widersprüchen des kulturellen Überbaus, dem Zwang, sich selbst definieren zu müssen, ohne daß der Markt ein ausreichend differenziertes Sortiment identitätsstiftender Waren bereitgestellt hätte.
Doch: Der Linksradikalismus nach '68 war nach Koltan nicht so sehr deshalb problematisch, weil ihm die „Verwurzelung“ in der gesellschaftlichen Basis fehlte, als vielmehr, daß dadurch die Theorien, mit deren Hilfe die Protagonisten der Bewegung ihr Tun reflektierten, einen seltsamen Doppelcharakter annahmen: Zum einen erhoben sie, wie von Theorien erwartet werden kann, den Anspruch, die gesellschaftliche Realität zu erklären und den Handlungshorizont der Individuen zu definieren. Andererseits waren sie aber auch Identitätswaren: Ob man Maoist oder Sponti war, hatte wenig objektive Gründe, sondern hing von biographischen Zufällen ab. Das Analogon dazu ist eher in der Fankultur zu finden: Eigentlich ist es ziemlich belanglos, ob man lieber die Beatles als die Stones hört. Doch je belangloser die Differenzen, um so vehementer und ohne Aussicht auf Entscheidung kann man sich darüber streiten und gerade dadurch seine eigene Identität im Gegensatz zu der anderen bestätigen.
Das Problem der '68er Revolte besteht nach Koltan also nicht so sehr darin, dass sie eine individualistisch geprägte Überbau-Revolte war, sondern daß sie sich nicht in der Lage sah, den Doppelcharakter ihrer Theorien zu reflektieren. Der Gebrauchswert der Theorien, ihre Fähigkeit, die gesellschaftlichen Entwicklungen zu erklären und das Handeln der Individuen zu leiten, wurde durch ihre Überformung zu Identitätswaren in zunehmendem Maße in Mitleidenschaft gezogen. Und in der Form des Anti-Deutschen-Syndroms erlosch schließlich jeglicher theoretischer Gebrauchswert, zurück blieb eine leere identitätsstiftende Hülle.
Die Stärke des Linksradikalismus war, dass er ein durch die kapitalistische Produktionsweise geschaffenes Bedürfnis, das nach selbstgewählter Identität, besser befriedigen konnte als der Kapitalismus selbst; seine Schwäche, dass er der Produktion identitätsstiftender Waren massiv Vorschub leistete.
In Phasen des Niedergangs schlug regelmäßig das Phänomen der Identitätssuche nach Innen durch. Man braucht sich nur die hirnrissigsten Auseinandersetzungen der letzten 40 Jahre anschauen um zu erkennen, daß der einzige Inhalt mancher Debatten ausschließlich in ihrer Form lag, nämlich der aggressiven Identitätsbildung nach Innen.
Die 68er-Bewegung war dabei überhaupt nicht mehr in der Lage, eine Theorie hervorzubringen, die dem äquivalent gewesen wäre, was der Marxismus für die Arbeiterbewegung gewesen war, statt dessen wurde sich durch die K-Gruppen konsumistisch bei den alten revolutionären Theorien wie in einem Second-Hand-Laden bedient, es ging darum, sich eine eigene „politische Identität“ durch die Wahl des jeweiligen Pseudo-Marxismus auf den Leib zu schneidern.
Die Bewegungen der 80er Jahre waren aktionistisch orientiert und kamen weitestgehend ohne Theorie aus.
Heute kann sich, wer als Linksradikaler meint, nicht ohne Weltanschauung auskommen zu wollen, am „Nürnberger“-Modell der „radikalen Wertkritik“ oder dem „Freiburger“-Modell der „kommunistischen Freunde Israels“ orientieren.
Mit ihrer Berufung auf die Kritische Theorie konnte das „Freiburger“-Modell eine vornehmere Ahnenreihe aufweisen.
Beide aber sind vorläufiges Endprodukt des Niedergangs der Linken, ein "Verwesungsprodukt" in Folge des Niedergangs der Arbeiterbewegung. In großen Teilen ist der sog. "Linksradikalismus" dabei lediglich Teil einer Gegenkultur innerhalb der kapitalistischen Kulturindustrie, seinen Anhängern und Anhängerinnen scheint oft nicht bewusst zu sein, dass es sich bei ihren Debatten und Abgrenzungsversuchen, die keinerlei gesellschaftliche Relevanz haben bzw. den Anschluss an die Gesellschaft teilweise auch schon längst aufgegeben haben oder gar nicht suchen, um Versuche der Identitätsstiftung handelt, die vollkommen in der kapitalistischen Logik verortet sind als Politik-Versatzstücke als identitätsstiftendes Warenangebot, das individuell konsumierbar ist.
Die "linksradikale" Band Egotronic, obiges Interview und die identitären Auseinandersetzungen in den Kommentaren auf Tue-Info sind meiner Ansicht nach anschauliche Beispiele für den Niedergang und die Krise der Linken, deren angebliche (in Wahrheit aber längst bei der Affirmation der herrschenden Zustände angelangten) "Radikale" sich, abgeschnitten von jeglicher gesellschaftlichen Relevanz, in identitätsstiftende, kulturindustriell verwurstete Versatzstücke einstiger Politik flüchten. Verbunden mit dieser individualistischen, konsumistischen Attitüde ist in großen Teilen dieser "linksradikalen" subkulturellen Jugendszene eine Abgrenzung, ja Ausgrenzung und persönliche Diffamierung der traditionellen Linken und Personen, die sich dieser Tradition verpflichtet fühlen und an einer revolutinären Perspektive zur Überwindung des Kapitalismus festhalten, statt sich desillusioniert und perspektivlos zurückzuziehen und seine Zeit fortan damit zu verbingen, diese Resignation durch ständige, polemisierende Kritik der einstigen Genossen und Genossinnen zu verarbeiten. Mit viel identitärem Gehabe hat man sich in einer Nische der warenförmigen Gesellschaft eingerichtet, sich mit einigen Versatzstücken linker Theorie eingedeckt und sie zu einem Lifestyle ausgebaut, welcher den gesuchten identitätsstiftenden Zweck erfüllt. So kann man sich dann schön abgrenzen, sich in seiner Nische einrichten und sich das auch in mannigfaltigen inhaltsleeren Debatten selbst bestätigen. Was dabei herauskommt, sind dann solche Diffamierungen wie "Arbeiterklassefetischisten" für Leute, die noch ernsthafte marxistische, antikapitalistische Politik machen wollen.